Geschrieben am 17. November 2012 von für Crimemag

Thierry Cazon & Julien Dupré: Der seltsame Fall des Dr. Greene und Mister Chase – Teil 4

James Hadley Chase

James Hadley Chase

– Wer steckt hinter James Hadley Chase? Kein Geringerer als Graham Greene. Das sagen zumindest Les Polarophiles Tranquilles, ein französischer Verein, der sich seit zehn Jahren ambitioniert des Kriminalromans annimmt. Des klassischen Kriminalromans wohlgemerkt, der als Schmuddelgenre früher von der Literaturkritik mit spitzen Fingern angefasst oder gleich hochnäsig übersehen wurde und der heute trotz der Krimi-Woge, die uns überschwemmt, im aufgeregten Geplapper der Krimi-Neuerscheinungen erneut vergessen wird.

Zu Unrecht, wie die Polarophiles Tranquilles meinen, und die daher Werke fast vergessener Autoren aus dem Bücherregal ziehen, abstauben und sie für einen Moment ins Scheinwerferlicht halten: Zweimal im Jahr erscheint ein kostenloses Bulletin, unabhängig und ohne kommerzielle Interessen, nur gewidmet den geliebten Klassikern wie etwa James Hadley Chase, Frédéric Dard, Georges Simenon, Stanislas-André Steeman oder Dolores Hitchens.

Manchmal stoßen Sie bei ihrer gründlichen Beschäftigung mit der Kriminalliteratur auf Überraschungen:

Decken Sie hier den größten literarischen Schwindel des 20. Jahrhunderts auf, der ungeachtet der Tatsachen, bislang von der literarischen Kritik negiert wird. Der stets Nobelpreisverdächtige Graham Greene soll die grausam-schmuddeligen Chases geschrieben haben? Das, was die friedlichen Polarophilen im Laufe der Jahre ausgegraben haben, stört langsam ganz gewaltig den Frieden der etablierten Literaturwelt. (Zu Teil 1, Teil 2, Teil 3)

Der seltsame Fall des Dr. Greene und Mister Chase (Fortsetzung )

Von Thierry Cazon und Julien Dupré

Übersetzung: Christiane Dreher

 

Zusammenfassung der vorhergehenden Ausgabe: Nach dem Erscheinen verschiedener Texte (Essays, Zeitungsartikel), die vermuten lassen, dass die von James Hadley Chase geschriebenen Kriminalromane sehr wahrscheinlich aus der Hand von Graham Greene stammen, fürchtet Mr. Chase, dass ihr Geheimnis gelüftet sei, und er bittet Mr. Greene darum, Bilanz zu ziehen. Die beiden Männer besprechen ausführlich die literarischen Übereinstimmungen, die zwischen ihren Werken bestehen.

Aber welche Gründe stehen hinter einer solchen Zusammenarbeit? Die beiden Hauptakteure kommen hier zu einem zweiten Gespräch zusammen, um vor allem die technischen Aspekte ihrer Zusammenarbeit zu erörtern.

Teil 2 des II. Aktes:

Der Wechsel der Pseudonyme

Greene: Zu aller erst den Gebrauch der konkurrierenden Pseudonyme von Chase: Dieser berechnete Gebrauch diente dem Dreiecksverhältnis, von denen ich vorhin gesprochen haben. Wie Sie wissen hatte der einzige Krimi, den ich nicht unter dem Namen von Chase veröffentlicht habe (He won’t need it now, 1939 veröffentlicht und geschrieben von James L. Doherty; in Frankreich 1950 veröffentlicht unter dem Titel Qu’est-ce qu’on deguste diesmal offiziell von J. H. Chase geschrieben) hatte die Aufgabe ein bisschen abzulenken, aber für die Atmosphäre und die Handlung war es ein Chase reinsten Wassers. 1944 begann ich zwar die amerikanischen Krimis ein bisschen satt zu haben, immer mit dem gleichen Set identischer Handlung, der Folter, dem Knattern der Maschinenpistolen und den stereotypen und primitiven Figuren.[1] Jedoch war das genau das, was den kommerziellen Erfolg der Chase’s ausmachte! Wie sollte ich also, von jetzt an, meine Taktik ändern, ohne die Leser zu verwirren und zu verhindern, dass sie sich abwenden.

Chase: Das ist wohl der Moment, wo Sie sich gesagt haben „ich werde ihnen den noch mal den Coup des Pseudonyms hinter dem Pseudonym bringen“

Greene: Genau! Ich ersann einen neuen Namen, Raymond Marshall[2] und begann in seinem „ersten Roman“ hingebungsvoll alles zu massakrieren, was die Klischees eines klassischen hard-boiled „noir“ Krimis ausmacht: Das wurde Blondine unter Banditen / Miss Shumway jette un sort, wo die Harten die meiste Zeit in Ohnmacht fallen, die Frauen doppelt auftreten und so eine „gute“ und eine „schlechte“ Seite verkörpern (wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, einen Regenguss auf die Rivalin fallen zu lassen) und Hunde, die ihre Meinung zu allem kund tun… Alles in allem, zerstörte ich mit großem Gelächter alle Strukturen, die angefangen hatten, mich ein bisschen zu langweilen. Und Blondine unter Banditen bot auch einen anderen Vorteil: den, die letzten Krümel der Kenntnisse, die ich von meiner Reise nach Mexiko ziehen konnte 1938[3] auszubeuten. Ich machte die schamanische Zauberei zum Thema. Es war nicht der letzte Chase, der diese Aufgabe übernahm: später bediente ich mich des Indochina-Dekors für Der stille Amerikaner / Un americain bien tranquille und meine Kenntnis der Region in dem sehr „greenian“ Lotusblüten für Miss Quon / Un lotus pour Miss Chaung.

Chase: Ich erinnere mich an das Gesicht, das ich machte, als sie mich baten Blondinen unter Banditen als mein Werk anzunehmen… Wenn ich jemals geahnt hätte, dass Raymond Marshall gar nicht existierte.[4] Ich dachte damals, „Er macht mit mir, was er will!“

Greene: Noch nicht. Denn 1945, als ich Lust hatte, den Rahmen der mehr und mehr begrenzten Chases zu sprengen, bin ich noch ein bisschen weiter gegangen: nachdem die „parallelen Pseudonyme“ entstanden waren, habe ich mich entschieden, den Chase noch  „innerlich“ anzureichern: Ich wollte nicht, das habe ich Ihnen schon gesagt, der Gefangene meines eigenen pseudo-amerikanischen Romanschriftstellers sein.

Chase: Ich sehe schon: wir kommen zu Eva [dt. Titel ebenfalls Eva, Anm. der Übers.].

Greene: Ja. Mit wie viel Hass sie diesen Namen aussprechen.

Chase: Mit allem Grund! Ehrlich, was hat Sie verleitet, mir diesen fetten psychologischen Roman aufzubürden, der so gar nichts mit meinem gewalttätigen und primitiven Pseudo-Universum gemein hatte. Und die Handlung… Ich habe beim Lesen Schweißausbrüche bekommen: Die Geschichte dieses Schriftstellers, der reich geworden ist, durch den Erfolg seiner Bücher… die er nicht mal geschrieben hat… da er sich eines Ghostwriters bediente. Sind sie sich bewusst, dass wenn unser Tandem jemals Objekt eines Verdachts wird, ein solches Buch einen erdrückenden Beweis darstellt?!

Greene: Mein armer James, man darf niemals der Rechtschaffenheit eines Schriftstellers trauen: er wird in sein Werk alle Elemente, die er für seine Persönlichkeit als nützlich erachtet, integrieren, und die Elemente können auch von weniger glorreichen Aspekten des Privatlebens stammen… ich gebe zu, dass ich Sie mit Eva eine ordentlich bittere Pille habe schlucken lassen, aber versetzen Sie sich in meine Lage. Ich weiß, ich hätte Sie das Buch als Raymond Marshall schreiben lassen können. Aber Chase war doch das Zugpferd unserer Zusammenarbeit, die Raymond Marshalls und die anderen gelegentlich verwendeten Pseudonyme hatten einen weniger großen Erfolg – vor allem haben weder die Leser noch die Kritiker gesehen, dass sie aus der gleichen Hand stammten wie Chase. Mir lag Eva am Herzen und ich wollte, dass sie Erfolg hatte. Und dann ist es kein Buch, dass im Werk von Chase derart erstaunt, wie Sie behaupten. Die Prostituierte Eva passt da gut rein, durch ihr Métier und aus Ihrem Universum des Frauenhandels, das ich sie bereits in Miss Callaghan muss Trauer tragen vier Jahre früher beschreiben ließ. Sie ist vor allem das perfekte Porträt des typischen Luders von Chase, der unübertreffliche Prototyp: mit diesem Kniff ging der Scheinwerfer des Buches vom hochstapelnden Schriftsteller zu diesem Leckerbissen …

Chase: … während man sich gleichzeitig von jeglichem Verdacht befreite. Gut gemacht! Sie haben schon immer die Kunst beherrscht, die Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken, sogar inmitten der größten Gefahr. Nichtsdestotrotz, und trotz Eva, haben die Pseudonyme weiterhin eine Rolle in ihrem Unternehmen des Versenkens der ersten Chases gespielt. Satan in Satin / Elles attigent die sie kurz darauf herausgaben, erschien zu Beginn nicht unter „meinem“ Namen.

Greene: Und wissen sie warum?

Chase: Ja, ich erinnere mich, was sie mir damals sagten. „ Ich hab genug von der Pappkarton-Inszenierung der USA, wo ich bislang nicht mal einen Fuß hingesetzt habe, nur um dem Leser zu gefallen. Ich würde gern London wieder auferstehen lassen, mein gutes altes London, und es in einem absoluten Schwarz zeichnen,“

 Greene: Allerdings: Chase dort einzugliedern, hätten weder das Publikum, noch die Kritik verstanden, die an ihrem Bedarf des unmoralischen komischen Amerika festhielten,… Selbst, wenn das Buch innerhalb der Chases erstaunte, so spielte sich die Geschichte von  Eva immerhin auch jenseits des Atlantiks ab. Man musste also zu einer List greifen. Raymond Marshall war momentan als mein „rasender hard-boiled“-Autor reserviert (was sich schon mit Blondine unter Banditen und Hallo, is’ da jemand? / En trois coups de cuiller à  pot, gezeigt hatte, aber noch ein bisschen Geduld, dann werde ich dieses Pseudonym auch noch mit Traquenards / —[5] „ausgestattet“ haben), so dass ich also ein viertes Pseudonym als Konkurrenz zu Chase erfunden habe: Ambrose Grant.

Chase: Und da haben sie einen unverzeihlichen Fehler begangen: 1946 haben Sie Satan in Satin in die Serie der Romane aufgenommen, die sie bei „Eyre and Spottiswood“ für Douglas Jerrold leiteten. Sie haben auch den Verdacht bestärkt, dass Sie der wahre Autor des Romans seien! Um so mehr, als das Buch starke Ähnlichkeit mit einigen Szenen und Figuren aus  Am Abgrund des Lebens / Rocher de Brighton hat …

Greene: Der Name von Grant schwächt diesen, sagen wir, kleinen dreisten Dreh doch erheblich ab …

Chase: … den einer ihrer Biographen, William J. West beinahe aufgedeckt hätte! Ich zittere immer noch: stellen Sie sich vor, er bestätigt in seiner Biographie The Quest for Graham Greene, dass Sie dieses Buch geschrieben haben.

Greene: Mein lieber James, nachdem ich West gelesen habe, kann ich Ihnen versichern, dass er nichts davon gesagt hat, schon gar nicht explizit. Ich gebe zu, West beginnt mit der Eröffnung: „Jeder Leser, dieses unter neuem Namen (also Ambrose Grant) veröffentlichten Buchs, wird sofort erkennen, dass die beiden Männer [Chase und Greene, Anm. der Übersetzerin] zusammen daran gearbeitet haben.“[6] Und er zeigt alle Übereinstimmungen, die zwischen Satan in Satin und meinem persönlichen Universum bestehen, auf: die Ähnlichkeit der Figur Sidney Brant mit Pinkie (dem Helden aus Am Abgrund des Lebens[7]), die verwandte Ausdrucksweise… Zum Schluss sehen Sie jedoch, wie West zurückweicht, in dem er völlig gegenteilig äußert, dass „eine aufmerksame Lektüre zeige, die Annahme, das gesamte Buch stamme aus der Hand von Greene, sei völlig unwahrscheinlich“.[8] Die Geschichte endet, ohne jedes weitere Argument für diese Behauptung.

Chase: Dieser willkürliche Rückzieher genügt ihnen?

Greene: Völlig. Ob es überzeugend ist oder nicht, ist völlig unerheblich. Vermutlich wurde auch in diesem Fall ein gewisser Druck auf William J. West ausgeübt, aber ich glaube nicht, dass seine Leser auf diese Idee kommen.

Chase: Gewisser Druck? Dieser Mann hatte in England Briefe entdeckt, die unsere Zusammenarbeit aufdeckte, und wenn nicht meine Familie und die Ihre dieser Geschichte diskret eine Ende bereitet hätten, wäre die Sache aufgeflogen![9]

Greene: Wie dem auch sei, Wests Ausflucht zeigt mir, dass hinter der Maske von Ambrose Grant, die von Chase hat gut gehalten.

Chase: Immer wieder Masken hinter Masken …

Greene: Diese Praxis wird sich noch einmal für Raymond Marshall bewähren, und für weit weniger ehrenvolle Gründe als die künstlerischen Ambitionen … 1948 traf uns ein echt harter Schlag: „unser“ Raymond Marshall wird vom amerikanischen Gerichtshof für ein Werk aus dem Jahre 1946 angeklagt: le Requiem des Blondes / — .

Chase: Ich erinnere mich. Der Kläger war niemand anders als Raymond Chandler, der uns vorwarf, verschiedene Szenen seiner Romane plagiiert zu haben. Er hatte nicht unrecht, aber wir hatten Glück im Unglück, wir hatten nämlich ebenso Dashiel Hammett plagiiert – die gesamte Einleitung von Le Requiem des Blondes / [Keine dt. Übers. ermittelt, Anm. d. Übers.] ist eine Kopie von Rote Ernte / La Moisson Rouge

Glücklicherweise merkte Hammett nichts davon, so konnten wir den Schaden, den uns Ihre unglaubliche Sorglosigkeit verursacht hatte, eingrenzen …

Greene: Meine Sorglosigkeit?

Chase: Muss ich Sie daran erinnern, Graham, dass Sie der Initiator dieser ständigen Plagiate waren? Ihre Rolle hierin ist von William J. West deutlich erkannt worden![10]

Greene: Ja, aber vergessen Sie nicht, dass er sich in seiner Abschwächung der Enthüllungen selbst diskreditiert hat. Die Gefahr von dieser Seite ist also gebannt.

Chase: Wenn Sie das sagen … Kehren wir zu unserem Thema zurück. Nachdem Raymond Chandler „Raymond Marshall“ vor Gericht vorladen ließ, musste letzterer ja erscheinen …

Greene: Es sei denn, dieser wäre nur ein Pseudonym. Und erneut fällt eine Maske nur um dahinter eine andere Maske zum Vorschein zu bringen: da ich anständigerweise „Raymond Marshall“ nicht auf mich nehmen konnte, habe ich Sie an die vordere Front geschickt. René Brabazon Raymond, alias James Hadley Chase, gab zu, Autor der Romane von „Raymond Marshall“ im Allgemeinen und der, des verunglimpften Requiem des Blondes / —  im Besonderen zu sein…

Chase: Eine schmutzige und lästige Pflicht. Als reichte es nicht, dass ich als der gelte, der ihre zweifelhaften kleinen Romane schreibt, jetzt hängte man mir auch noch das Mäntelchen mit dem Ruf eines Plagiators um!

Greene: Mein lieber James, Ihre nicht enden wollenden Beschwerden irritieren mich. Damit, dass Sie sich dem Prozess aussetzten, übernahmen Sie nur Ihre Rolle als Strohmann, für die ich Sie engagiert habe und bezahlt – und wie ich zu wissen glaube, sehr großzügig bezahlt habe! Ich gebe zu, es ist eine undankbare Aufgabe, das Werk eines anderen auf sich zu nehmen, ebenso wie die Unannehmlichkeiten, die es nach sich zieht, aber als ich Ihnen Ihre Rolle erklärte, habe ich Ihnen nichts vorgemacht.

Chase Auf jeden Fall habe ich nicht gedacht, dass es so hart werden würde.

Greene: Wie dem auch sei, der Prozess, so empörend er Ihnen auch vorkommen mag, hat einen zusätzlichen Schutzwall zwischen unsere Verbindung und denen die Verdacht schöpfen könnten errichtet. Tatsächlich hat sich Chase zu dem Bild eines rein kommerziell interessierten Autors noch zusätzlich den Ruf als Plagiator, als Parasit eines Genres eingehandelt, der schamlos auf Kosten anderer lebt. Gleichzeitig verschwanden mit diesem Ruf die Ähnlichkeiten zwischen meinem und ihrem Werk: denn letztere könnten rückblickend auch als Anleihen aus dem Werk von Graham Greene gelten. Dass der Held aus Miss Callaghan muss Trauer tragen sich Raven nannte (wie die Figur in Das Attentat), dass der Sidney Brant aus Satan in Satin Pinkie hervorgebracht hat, war ab sofort ohne jede Bedeutung.

Chase: Aber warum sollten wir dieses Spiel mit den Pseudonymen nach dem Prozess nicht mehr fortführen? Literarisch und kommerziell sind wir so doch auf unsere Kosten gekommen.

Greene: Weil die Tarnung Raymond Marshall zugunsten von Chase aufgeflogen war. Vor allem dadurch, dass er verschwand, zeigte er, dass die gesamte Struktur unserer Organisation an ihrem Platz war: Zukünftig wusste der Leser, was er von einem Autor wie James Hadley Chase erwarten konnte, darunter einige etwas untypische Werke – wie ihm die Bücher von Raymond Marshall oder Ambrose Grant oder selbst ein Buch wie Eva jetzt erscheinen mochten. Kurz gesagt, wir hatten freies Spiel: ob unsere Romane in England oder in den USA oder wo anders spielten, das Publikum folgte von dem Moment an, wo Chase auf dem Umschlag stand, überall hin. Wir konnten also die Pseudonyme aufgeben, die Ihnen nur selbst Konkurrenz gemacht hatten – Tatsache ist, dass nach 1949, in dem Jahr, in dem der Prozess endete, kein Buch mehr von Raymond Marshall erschien. Und dann lösten die Romane von Chase zu dieser Zeit große Begeisterung bei einem neuen Publikum aus: bei den Franzosen, die nun ihrerseits, dank der Serie Noir, die „B-Mannschaft“ des amerikanischen Noir-Romans entdeckten – die Engländer Peter Cheyney und „Sie“, mein Lieber. Junge Schriftsteller wie Boris Vian, Jaques Laurent, Serge Laforest oder Léo Malet sind unserem Beispiel gefolgt und schrieben Krimis unter amerikanischen Fantasie-Pseudonymen, um ebenfalls ihren Anteil am Kuchen zu ergattern.

Chase: Ja, von diesem Moment an wurde Frankreich zu dem großen Absatzmarkt für unsere gesamte Produktion. Der Beweis dafür ist, dass die Bücher von Raymond Marshall in Frankreich, ohne dass irgendjemand auch nur annähernd daran dachte, ihn mit Chase in Verbindung zu bringen[11], in den fünfziger Jahren unter „meinem“ Namen wieder aufgelegt wurden.

Das gleiche geschah auch mit den Bücher von „Ambrose Grant“ und „James L. Doherty“ … Ungeachtet der Attacken der Literaturkritik gegen den Kriminalroman (auch Thomas Narcejac kritisiert hartnäckig 1949 in La fin d’un bluff, die Chases für ihre „Unmoral“[12]), blieben wir die Zugpferde. Die anderen Pseudonyme dienten nur der Unterstützung von Chase.

Greene: Und was für eine Unterstützung!

Chase: Wenn man daran zurückdenkt, ist es doch ein Wunder, dass unser Tandem bis 1983 gehalten hat, denn trotz unserer soliden Organisation, mussten Sie sich doch noch einigen dummen Scherzen hingeben, die uns beinahe hätten untergehen lassen! Erinnern Sie sich nur an den Steuerberater, den Sie 1960 genommen hatten …

Greene: Ich weiß, worauf Sie anspielen: die Geschichte mit Tom Roe. Diesen Punkt anzusprechen haben Sie sicher schon mit Ungeduld erwartet – und sei es nur, um mir meinen Fehltritt vorzuwerfen.

Chase: Ah, nein! Sie wollen sich nicht noch mal davon stehlen? Sie haben versprochen, dass wir darüber reden! Wie sollen wir das Problem von allen Seiten betrachten, wenn wir nicht die unerwarteten finanziellen Schwierigkeiten unserer Zusammenarbeit erwähnen?

Greene: Gut, morgen werde ich den Rest meiner Sünden beichten. Und ich verspreche Ihnen, mit mir so hart ins Gericht zu gehen, bis mir Absolution erteilt wird.

Chase: Einverstanden, ich verzichte für eben. Aber glauben Sie nicht, dass es vorbei ist: Morgen gibt es keine Ausrede mehr!

Greene: Aber ja, morgen werden Sie alles erfahren …

Ende des II. Aktes.

                                                                                                              … wird fortgesetzt …

Thierry Cazon, beheimatet in Cannes an der Côte d’Azur, ist nicht nur leidenschaftlicher Krimi-Leser und -Sammler, sondern auch der Vorsitzende des Vereins Les Polarophiles Tranquilles. Auf der Homepage finden Sie sämtliche Veröffentlichungen des Vereins inklusive mancher Übersetzung (englisch, deutsch, italienisch …).

 

 


[1] Peter Cheyney, der Konkurrent zu Chase, kannte die gleiche Überdrüssigkeit. Ab 1940 tauschte er seinen Lemmy Caution und sein pseudo-amerikanisches Mundwerk gegen einen britischen Detektiven, Callaghan; und die Serie „Dark“ (Unter dunklen Sternen / Les Etoiles se cachent, Der schwarze Held / Héros de l’ombre) verrät Cheyneys Willen sich mit einem ausführlicheren Stil und in Richtung Spionage erneuern zu wollen.

[2] Ganz offensichtlich durch die Familie Greenes inspiriert : Raymond ist der Vorname einer seiner Brüder, und Marshall der Mädchenname seiner Mutter.

[3] Die ihn zu Die Kraft und die Herrlichkeit inspiriert hatte.

[4] Was natürlich passiert…

[5] Traquenards [keine dt. Übers. ermittelt; Anm. der Übers.], veröffentlicht 1948, bricht mit der künstlerischen Form der Burlesque von Raymond Marshall indem mit dem „unhaltbaren“ Edwin Cushman, eine typische Greene-Figur geschaffen wurde. Als Engländer und Pro-Nazi muss er sich in seinem eigenen Land verstecken, da er in Deutschland Radiosendungen  gegen die Alliierten gemacht hatte. Greene war hier offensichtlich von der Laufbahn des jungen Propagandisten William Joyce inspiriert, der der British Union of Fascists nahe stand und der in Deutschland die gleichen Aktivitäten wie Cushman hatte (dieser ähnelte im übrigen auch körperlich William Joyce: klein, von schwacher Gestalt, mit einer Narbe im Gesicht). Aber in Cushman wird auch der amerikanische Dichter Ezra Pound sichtbar, ein großer Mussolini-Verehrer, der, genau wie W. Joyce, im italienischen Radio anti-amerikanische und antisemitische Sendungen moderiert hatte. Wenn Greene auch Joyce niemals begegnet ist, so kannte er doch Pound, selbst wenn daraus keine, zumindest scheint es so, wirkliche Freundschaft entstanden ist: Pound schätzte das Werk Greenes  und er hatte insbesondere Schlachtfel des Lebens unterstützt (in Fluchtwege, reduziert Greene die Unterstützung Pounds auf einen „freundlichen Satz“, vermutlich weil ihm diese Bekanntschaft unangenehm war). Beide Männer hatten aber wenigstens einen gemeinsamen Freund, den Dichter T.S. Eliot – der ebenfalls von Mussolini angezogen war.

[6] Zitiert nach: William J. West, The Quest for Graham Greene, New York, St. Martin’s Press, 1998, S. 113: “Anyone reading the book Greene published for him under his name will immediately realize that the two men must have worked very closely together on the book.”

[7] In diesem Roman zeigt sich, mehr als in jedem anderen, das wahre Gesicht der Werke Greenes – ein unbezähmbares Herz, zutiefst verstört durch die Triebe die sich hinter der angeblich zivilisierten Welt zeigen. Diese Unmoral von Am Abgrund des Lebens verweist auf die Grausamkeit einiger Chases: Keine Orchideen für Miss Blandish (der die Kritik und nicht wenige Leser erschütterte), zeigt erstmals diese Komplizenschaft mit dem Bösen, und die späteren Chases werden auf deutliche Weise ganze Stücke aus Am Abgrund des Lebens (ebenso aus Satan in Satin, aber auch aus Traquenards / –, wo der sadistische Crane auf die arme Grace eine ebenso faszinierende Macht ausübt wie Pinkie auf Rose: je mehr er sie hasst, desto mehr klammert sie sich an ihn) wiederverwenden. Gar nicht zu sprechen von den Büchern eines Peter Loughran, letzter Spross dieses „sadistischen Stammbaums“, der sogar noch ein bisschen weiter ging.

[8] “ It has been suggested that the entire book is largely Greene’s work. A close reading shows that this is unlikely.” Zitiert nach William J. West, The Quest for Graham Greene, New York, St. Martin’s Press, 1998, S. 114.

[9] Vgl. Das Vorwort von The Quest for Graham Greene, S. XI: West erzählt darin, in Eabling in einem Versteck 500 Briefe von Réné Brabazon Raymond alias James Hadley Chase entdeckt zu haben, adressiert an Graham Greene; ein Briefwechsel, der sich über mehr als sechzig Jahre hinzog. Es wäre interessant zu erfahren, was aus diesen Briefen geworden ist, die vermutlich  — und so lange sich nichts besseres findet, da die Familien von Réné Brabazon Raymond und Graham Greene darüber absolut nichts wissen – wichtige Indizien über die geheime Absprache Greene-Chase liefern könnten.  Natürlich hat Druck dazu geführt, dass West sich selbst zensierte, er erfand die Begegnung zweier Männer „während der letzten Tage des zweiten Weltkriegs und über lange Zeit danach. Ihre Wege kreuzten sich vierzig Jahre lang und besonders oft in den sechziger Jahren […] Es ist ein außergewöhnlicher Zufall, dass beide Männer im gleichen kleinen schweizerischen Dorf Corseaux-sur-Vevey lebten und dort nach ihrem Tod beerdigt wurden, Chase 1985, Greene 1991.“ [„… since the last days of Second World War and for a long time afterwards. Their paths crossed repeatedly over the next forty years, particularly at the 1960’ […]. Quite by chance both men were living in the same small Swiss village of Corseaux-sur-Vevey when they died, Chase in 1985, Greene in 1991.”]

[10] Vgl. West, a.a.O., S. 114: “…kurz nachdem sein folgendes Buch Le Requiem des Blondes / — erschienen war, musste Chase einen Brief im Bookseller veröffentlichen, in dem er zugab, einige Anleihen bei Raymond Chandler genommen zu haben. Sie waren nicht besonders lang und es geschah auf Anraten von Greene, dessen Rat Chase noch weitere vierzig Jahre in Anspruch nahm.“ [„… but shortly after his next book Blonde’s Requiem appeared Chase was obliged to publish a letter in the Bookseller admitting certain borrowings from Raymond Chandler. They were not extensive and, partly as a result of Greene’s support, which lasted for many years afterwards.”]

[11] In Frankreich sind die Bücher von Raymond Marshall in deutlicher Weise zwischen der Serie Noire, Les Presse de la Cité / Un Mystère und dem kleinen Verlag Edition du Scorpion aufgeteilt. Dies ist der Beweis, dass bis zum Prozess von Requiem des Blondes / —, Marshall und  Chase als zwei verschiedene Autoren galten, sonst wäre alles in der Serie Noir erschienen. Nach dem Prozess und dem Bekanntwerden der „wahren“ Identität von Marhall, erwarb Marcel Duhamel, der Verleger von Chase in der Serie Noir, alle Rechte der unter diesem Namen veröffentlichten Bücher und verlegte sie in seiner Reihe.

[12] Die meisten Anhänger des Roman Noir sind der Ansicht, dass La Fin d’un Bluff  sein Ziel vollkommen verfehlt hat : die Kritik des amerikanischen hard-boiled Romans stützt sich auf die Beispiele von Peter Cheyney und James Hadley Chase, beides britische Autoren: Man muss sich daher fragen, ob Narcejac nicht vielmehr versucht hat die Methoden Greenes zu denunzieren, der mit Hilfe des „amerikanischen Romans“ Geld machte. Glaubte er, dass sich Graham Greene hinter Chase versteckte? Hat er etwa gewagt, auf verdeckte Art, von deren profitträchtigen Zusammenarbeit zu sprechen? Wir glauben schon. Auf jeden Fall wird Chase in dieser Veröffentlichung in Hinsicht auf die Grausamkeit der modernen Welt mit Greene verglichen. Und Narcejac endet zweideutig „ Die grausamen Schreiberlinge sind oft große Autoren, die sich entschieden haben, sich als Callboy zu verdingen“ (La fin d’un bluff, le Portulan, 1949, S. 106).

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