Geschrieben am 10. November 2008 von für Litmag, Neuer Wort Schatz I

Neuer Wort Schatz (11): Florian Voß

entkernt

Florian Voß

O.T.

O.T.

Mein Geburtshaus ist entkernt
Ich spreche keinen Dialekt

Zuhause bin ich ausgezogen
Nach Hause kehr ich wieder ein

Das Mädchen und die Mutter
mit einem dunklen Blumenstrauß

Im Zug lehnt ich mich aus dem Fenster
Und habe von der Luft gegessen

Sie war so kühl und bitter
Sie schmeckte mir nach Rauch

„O.T.“ (Ohne Titel) lesen wir nur allzu oft in Museen moderner Kunst, wenn wir uns angesichts eines rätselhaften Bildes vorbeugen zu dem Schildchen daneben und einen Fingerzeig erhoffen, vergeblich. Vielleicht wollte der Künstler ja die Phantasie des Betrachters nicht eingrenzen, aber erlebt wird diese Nicht-Auskunft meistens als eine Verweigerung der Hilfestellung, die verärgert. Dann bleib mir doch gestohlen!, denkt man und wendet sich ab.

Bei einem Text verschärft sich das Paradox. ‚Titel‘ ist das, was oben drüber steht, und ein Autor, der keinen Titel will, verzichtet eben darauf. Eine Menge Gedichte kommen ohne Titel aus, sie fangen einfach an und Ärger provoziert das selten. Das Poesie-Spiel folgt anderen Regeln als das der Malerei. Warum also „O.T.“ behaupten, wenn gerade das der Titel ist? Was kann er bedeuten?

Gleich im ersten Zeilenpaar spricht einer und sagt „Mein“ und „Ich“, aber eigentlich demonstriert er nur seine Eigenschaftslosigkeit, beschreibt also für seine Individualität dasselbe Paradox wie die Überschrift. „Entkernt“ bedeutet ja, dass die Substanz verschwunden ist oder zerstört wurde. Übrig bleibt die Fassade; und mag sie noch so authentisch sein, im Kontext des „entkernten Hauses“ umschließt sie entweder einen Hohlraum oder das nicht mehr Echte, den Ersatz. In eine ähnliche Richtung weist die zweite Aussage: Zwar gilt die dialektfreie Hochsprache als sozial erwünscht, aber sie bezeugt auch Wurzellosigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Jeder outet sich in der Regel als jemand aus einer bestimmten Region / Heimat, sobald er den Mund auftut – fällt das weg, ist er nicht zu verorten, gehört ins Nirgendwo.

Umso mehr überrascht es, dass im zweiten Verspaar von einem Zuhause die Rede ist: Ein Fixpunkt, wie es scheint, geradezu tröstlich. Und ist es nicht die erwünschte und natürliche Lebensbewegung, dass man, erwachsen geworden, das Zuhause verlässt, um hin und wieder zurückzukehren, zu Besuch? Im Zusammenhang dieses Gedichts aber klingen die beiden Aussagen eher so, als sei da einer aufgebrochen ‚ins Leben‘, was auch immer das heißen mag, und kehre zurück als Gescheiterter oder als einer, der schon nicht mehr in das Zuhause gehört und bald wieder weggehen wird. Der Blumenstrauß, der seine Rückkehr feiern soll, ist dunkel. Und das ganze Bild scheint einer früheren Zeit zu entstammen: Der Mann kommt und geht, die Frauen bleiben reglos und warten. Stehen sie da in langen Kleidern wie auf einem alten Bild?

Schwermut grundiert alle Aussagen, gegen Ende immer intensiver. Wie soll einer leben von Luft? „Kühl“ ist sie, „bitter“, schmeckt nach „Rauch“, der traditionellen Metapher für Vergänglichkeit und Auflösung. Einzig das „mir“ in der letzten Zeile trägt einen Lichtfunken ins Dunkel: Das Ich versichert sich der eigenen Empfindungen, es spürt sich doch immerhin noch, wenn auch schmerzlich.

Wenn ich dieses Gedicht lese, klingt immer ein anderes, vertontes mit: Das Eröffnungslied aus Schuberts Zyklus ‚Die Winterreise‘ nach Gedichten von Wilhelm Müller. ‚Fremd bin ich eingezogen / Fremd zieh ich wieder aus / Der Mai war mir gewogen / Mit manchem Blumenstrauß / Das Mädchen sprach von Liebe / Die Mutter gar von Eh’ / Nun ist die Welt so trübe / Der Weg gehüllt in Schnee.‘ Als Text ist das selbst ziemlich trübe, aber Schuberts Musik entfaltet einen Glanz, der auch auf das Gedicht abstrahlt: Wer die ‚Winterreise‘ liebt, kann die Worte gar nicht mehr als Worte allein wahrnehmen und ob das Klischee und abgenutzt ist, interessiert nicht mehr.

Florian Voß hat die Strophe sozusagen neu eingespielt, die Grundstimmung der Romantik fortgeschrieben. Es geht ja hier weder um Denkmalschutz noch um Rollenidentität. Es geht um eine existenzielle Ruhelosigkeit und Leere, die schon das Ich der ‚Winterreise‘ umtreibt und der mit Ratschlägen für positive Lebensgestaltung nicht beizukommen ist. Müllers Wanderer irrt zu Fuß durch eine Welt, die vom Schnee nicht schützend zugedeckt, sondern in eine kaltweiße Ödnis verwandelt wird. Sein zeitgenössischer Bruder fährt mit der Bahn durch Luft und Rauch.

‚Wo gehen wir denn hin? – Immer nach Hause.‘ Das schrieb Novalis am Ende des 18. Jahrhunderts, als mit dem ‚Heinrich von Ofterdingen‘ die Romantik begann. Zwanzig Jahre später, nach einem Jahrzehnt voller Kriege und gescheiterten politischen Hoffnungen, galt für Wilhelm Müller dieses Wort nicht mehr. Für das Rest-Ich aus Florian Voß’ Gedicht ist es nur ein Zitat.

Gisela Trahms

Zu Neuer Wort Schatz (12): Heinz Czechowski

Zu Neuer Wort Schatz (10): Norbert Hummelt


„O.T.“ ist zu finden in:

Florian Voß
Schattenbildwerfer
Lyrik Edition 2000
München 2007

Und auch in:

B. Kuhligk / J. Wagner (Hrsg.)
Lyrik von Jetzt
DuMont Verlag Köln 2003

Zur Homepage des Autors: florianvoss.com