Geschrieben am 20. Oktober 2008 von für Litmag, Neuer Wort Schatz I

Neuer Wort Schatz (8): Herbert Hindringer

ausziehen

Herbert Hindringer

flussbett

flussbett

das glück sei woanders dachte man
und rasierte sich das schamhaar zur pfeilspitze
richtung unschuld
ein langer winter endete dort

wo eines morgens regenwasser durch die dachrinnen
in den boden hinabrauschte
brauchte man nicht einmal die augen zu öffnen
um auf einem schiff wach zu werden

ein frühmorgendlicher regen war das
was man noch erwarten wollte
bevor man sich per annonce ein aktmodell suchte
das nach zu vielen sitzungen liegen blieb
sodass man beim ausziehen das bett zurücklassen musste
sich ganz leise hinausschlich

nur mit sonntagen im gepäck
stand einem die neue stadt misstrauisch gegenüber
war gleich eine bäckerei (sehr schön)
man schloss die fenster
und schraubte solange an seinem kopf herum
bis die trockenhaube endlich passte

Wunderbar verwebt Herbert Hindringer hier Melancholisches und Tröstliches, Vertrautes und Erstaunliches. ‚Das Leben ist anderswo‘, titelte einst Milan Kundera, und das Glück natürlich auch, wer hätte das nicht schon empfunden und beseufzt? Die Konsequenz allerdings, die in den restlichen drei Zeilen der ersten Strophe geschildert wird, ist dann eine schöne Überraschung. Ob aber der Pfeil die Unschuld erreicht und raubt, bleibt doch sehr zweifelhaft, der lange Winter endet zwar, aber es klingt nicht so, als ob ein froher Frühling anbräche – eher, als stecke der, der da spricht, fest, sei immobil oder bleibe vielleicht selber ungewollt unschuldig trotz aller Rasierkünste.

Trübe scheint auch die zweite Strophe zu beginnen: Regen, ach herrje. Aber was gibt es Wohligeres als im Bett zu liegen, unbehelligt von Taggedanken, und den Regen rauschen zu hören? Wie auf einem Schiff ruht man da, vielleicht einem trunkenen, und gleitet ganz, ganz allmählich ins Wache, in einen frühen Morgen, den der Verkehrslärm noch nicht zerstampft. Und schließlich steht man dann auf und sucht sich ein Aktmodell.

Täten Sie doch auch, oder?

Es ist die listige Verwendung von „man“, die hier alles möglich macht. Gerade hat der Leser noch sehr bekannte Erfahrungen nachvollzogen und sich mit Wiedererkennungs-Genuss in das „man“ eingereiht, da wird er schon mitgeschleift zu ziemlich unalltäglichen Unternehmungen, die immerhin ein bisschen Glück versprechen. Viele Sitzungen finden statt mit dem Aktmodell, das bestimmt hübsch ist (würde es sonst diese Beschäftigung wählen?), und siehe da, es flieht nicht, sondern bleibt, es bleibt… Schließlich werden der Sitzungen zu viele, und das „man“, immer noch und immer wieder das „man“ (nirgendwo ein Ich), ist offenbar nicht fähig, das Modell vor die Tür zu setzen – es muss, schöner Doppelsinn, ausziehen, aber nicht sich, sondern aus der Wohnung. Ganz leise entfernt es sich, um es nicht zu wecken: der Fluss, so schließen wir aus dem Titel, ändert seinen Lauf, verlässt sein Bett, das ihm genommen wurde, und muss anderswo jenes Glück suchen, das die Schlafende nicht mehr bereitet.

Die Sonntage im Gepäck führt ja wohl der Reisende mit sich, doch dann gehören sie in origineller Vertauschung zu der neuen Stadt, die den Fremden unfreundlich beäugt. Sonntägliche Öde, hochgeklappte Bürgersteige, Abgewiesensein – auch das kennt jeder. Glücklicherweise tröstet die Bäckerei und verhütet den Sturz in die Melancholie. Alles gut? Ach nein. Das „man“ schließt die Fenster, schottet sich ab und beginnt das mühselige, mechanische Geschäft der Anpassung. Der Kopf wird der Trockenhaube angepasst, nicht umgekehrt. Das Glück ist ferner denn je. Der Fluss, der sein Bett verlassen hat, trocknet aus.

Und doch gleitet er weiter in der Form des Gedichts, indem immer das letzte Wort oder die letzte Zeile einer Strophe sich fortzusetzen scheint im Beginn der nächsten, es gibt keine Zäsuren, das „gegenüber“ passt z.B. zu der Stadt wie zu der Bäckerei, und so fließen die Geschehnisse ineinander und dahin, mit ihnen die Zeit, und getragen von diesem Strömen, wollen wir auch nicht glauben, dass die Trockenhaube das Ende ist. Such den Wasseranschluss, Fluss! Ein neues Bett, eine neue Gefährtin! Starr sitzen tötet, das weiß man doch.

Gisela Trahms

Zu Neuer Wort Schatz (9): Nadja Küchenmeister

Zu Neuer Wort Schatz (7): Carl Christian Elze


„flussbett“ ist zu finden in:

sprachgebunden
Zeitschrift für Text und Bild
Ausgabe 2/2006
Edition chiméra
www.sprachgebunden.de

In einer leicht veränderten Fassung auch in dem Gedichtband:

Herbert Hindringer
Distanzschule
Yedermann Verlag