Geschrieben am 1. Dezember 2010 von für Litmag, Vermischtes

Frische Häppchen

Neue Häppchen,

heute: Christiane Geldmacher (CG) und Senta Wagner (SeWa) mit einem Ausstellungstipp, einer Preisverleihung und den Romanen von Siri Hustvedt und Moritz Rinke.

Fügungen

Es heißt
ein Dichter
ist einer
der Worte
zusammenfügt

Das stimmt nicht

Ein Dichter
ist einer
den Worte
noch halbwegs
zusammenfügen

wenn er Glück hat

Wenn er Unglück hat
reißen die Worte
ihn auseinander

(Erich Fried)

Georg Widener: BlauerMontag, 2006. Foto: Collection abcd

Terézia Mora erhält den Erich-Fried-Preis 2010

Eine in Berlin lebende Ungarin, die Deutsch schreibt und aus dem Ungarischen übersetzt, bekommt auf Vorschlag eines Schweizer Jurors den nach dem großen österreichischen Lyriker benannten Preis verliehen, in Wien. Kunst macht sich breit. Etwas genauer vielleicht: Die Preisträgerin heißt Terézia Mora, die 1971 in Sopron, Ungarn geboren wurde und seit 1990 in Berlin lebt. Ihr jüngster und für den Preis ausschlaggebende Roman heißt „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ (2009). Der Juror heißt Urs Widmer, in Zürich lebend und Autor zahlreicher Erzählwerke sowie Theaterstücke. Die Auszeichnung wurde im Andenken an Erich Fried ins Leben gerufen und ist 15.000 Euro hoch dotiert.

Am 28. November 2010 nehme ich Platz im Literaturhaus Wien zur Verleihung des Erich-Fried-Preises, dessen umständliche Einführung hinter uns liegt. Jetzt sind (fast) alle live vor Ort. Die Begrüßungen und Lobesworte kommen von der Internationalen Erich Fried Gesellschaft und der Politik. Sie sind sich einig, eine Autorin mit großer literarischer Zukunft auszuzeichnen. Urs Widmer sagt, er bewundere Terézia Mora seit ihrem Erzählungsband „Seltsame Materie“ (1999). Ich auch. Seine Begeisterung über den ersten Roman „Alle Tage“ (2004) ist genauso spürbar. Ihre Schreiberregung, sagt er noch. Und: ihr Schreiben, ihre tragische, hochkomische Erzählstimme, sei wie ein souveränes Pfeifen im Wald. „Den letzten Mann auf dem Kontinent“ sehe er als Wenderoman der allerersten Güte und gleichzeitig als Liebesroman.

Mora, Foto: Susanne Schleyer

Als Terézia Mora Blumen überreicht bekommt, haucht sie „Oh, Gott“. Fängt sich und reflektiert in einer sehr persönlichen Rede („Die Worte noch halbwegs zusammenzufügen“) über die Literatur als ihr Zuhause. Ihr gehe es nicht darum, Geschichten zu erzählen, sondern darum Fragen zu stellen. Trotzdem, die Welt so aus den Fugen geraten zu lassen, das schafft nur sie. Terézia Mora ist eine Klasse für sich in der jüngeren deutschsprachigen Literatur. (SeWa)

Terézia Mora: Der einzige Mann auf dem Kontinent. München: Luchterhand Literaturverlag 2009. 384 Seiten. 21,95 Euro.

Ein Gespräch mit Terézia Mora übers Schreiben und Übersetzen finden Sie hier.

Ausstellungsansicht. Schrin Frankfurt. Foto: Norbert Miguletz

Mit 50 fängst du an zu zittern

Das Zittern ihres Körpers kam bei einer Rede über den vor zweieinhalb Jahren verstorbenen Vater. Vom Hals an abwärts, der Körper bebte, die Beine liefen dunkelrot an. Eine unbekannte Macht zerrte an Siri Hustvedts Körper. Die New Yorker Autorin, verheiratet mit Paul Auster, hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon intensiv mit Neurologie beschäftigt. Sie war seit ihrer Kindheit Migränepatientin und entschlossen, der Ursache des Schmerzes auf die Spur zu kommen. Sie arbeitete sich in die Pharmakologie ein, die psychiatrische Diagnostik, hörte Vorlesungen über Hirnforschung, war ehrenamtliche Mitarbeiterin am in der Payne Whitney Psychiatric Clinic. Sie berichtet über fremde Hände von Splitbrain-Patienten, gelähmte Glieder bei Neglect und von Leuten, die Stimmen hören. Sie  nimmt Medikamente. Erst Beruhigungstabletten, dann etwas gegen Migräne. Was ist die Ursache dieser Spasmen: Depressionen, Hysterie, Panik, eine bipolare Störung,  Epilepsie? Tatsache ist: Es wird immer grauenvoller. Gerade bei öffentlichen Auftritten kommt der Tremor immer wieder. Auch bei einer Rede über das Zittern, vor Neurologen, Psychiatern, Doktoranden. Sehen Sie? Genau das meinte ich. Es ist demütigend, aber Hustvedt gibt nicht auf. Sie hält ihre Rede. Am Ende wird die „Krankheit“ nicht geheilt sein und „Die zitternde Frau“ ist nur ein Zustandsbericht. Der Zustandsbericht geht so: Mit 50 fängst du an zu zittern, mal mit Grund, mal ohne, und mal sehen, wie das alles noch weitergeht. (CG)

Siri Hustvedt: Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven. (The Shaking Woman Or A History Of My Nerves 2010), Deutsch von Uli Aumüller und Grete Osterwald, Hamburg: Rowohlt Verlag 2010. 236 Seiten. 18,90 Euro.

Mehr zu Siri Hustvedt: sirihustvedt.net

Emery Blagdon in seinem Atelier, 1979. Foto: Richard Greenhill

Adieu, Elternhaus und Kunst

Loslassen müssen alle einmal. Jeder Tag ist ja schon ein kleiner weher Abschied. Dass dabei nicht immer gleich das eigene Elternhaus plus mannshoher Bronzeskulpturen im Moor versinken muss, wollen wir hoffen. Bei Paul war das aber genau so nach knapp fünfhundert Seiten überraschend köstlicher und übermütiger Romanlektüre. Dabei hat er sich richtig angestrengt: Paul soll Haus und Kunst retten. Unser Mann ist ein Spross des Worpsweder Familienclans Kück (richtig gelesen, Worpswede, Künstlerkolonie, das Moor, der Himmel und so), und in Worpswede schlagen seit Generationen Künstlerherzen. Die schlagen mal in die eine, mal in die andere Richtung, für dieses, für jenes – Kunst ist eben Kunst. So verheddern sich die Kücks in ihren eigenen Unzulänglichkeiten, ihren Seelentiefen, der Geschichte, der Liebe. Das Moor macht auch, was es will, es verschlingt und erzählt. Vielleicht hat Paul am Ende mehr gewonnen als verloren. Mag es die Einsicht in die Kapriolen des Lebens sein. Seien Sie nett, lesen Sie die Talentprobe in Prosa des Dramatikers Moritz Rinke, wünschen wir uns. (SeWa)

Moritz Rinke: Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010. 496 Seiten. 20,60 Euro.

Ausstellungstipp: Weltenwanderer. Die Kunst der Outsider

„Großartig, ja, das ist vom Feinsten!“,  rief kürzlich Jonathan Meese, als er die Ausstellung „Weltenwandler. Die Kunst der Outsider“ in der Frankfurter Schirn besuchte. „Das ist totale Kunst. Das sieht man auch gleich. Wer das nicht spürt, ist total degeneriert.“ Meese führte durch die Ausstellung und fand alle Künstler „genial, geil, super, spitze, wunderbar.“ In der Schirn werden ihre fantastischen, skurrilen, aber auch sehr ernsten, determinierten Werke gezeigt, die alle eines gemeinsam haben: Intensität.  Die „Outsider“ sind unerwartet, halten sich nicht an Konventionen, überziehen mit ihrer Kunst das ganze Leben. Die Ausstellung zeigt Werke von Künstlern vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Herausragend sind die Arbeiten von Madge Gill, Judith Scott, A.C.M, Georg Widener und August Walla. Einigen Künstlern hätte man sicher statt der Buntstifte Ölfarben und mehr PLATZ gewünscht. Sie hätten ihn zu füllen gewusst. Mehr davon! (CG)

WELTENWANDLER. DIE KUNST DER OUTSIDER. Noch bis zum 9. Januar in der Frankfurter Schirn. 1. Foto (oben): Henry Darger: Ohne Titel, Ca 1950-1960. Foto: Collection abcd, Paris.

Ausstellungsansicht. Schirn Frankfurt. Foto: Norbert Miguletz