Geschrieben am 24. November 2010 von für Litmag, Vermischtes

Theatertipp: Peer Gynt am Thalia, Hamburg

Unangestrengt universell in der Schwebe:

Am Thalia-Theater in Hamburg wird derzeit Ibsens Klassiker „Peer Gynt“ gespielt. Stefan Beuse hat sich die Inszenierung von Jan Bosse angesehen – und fand sie durchweg gelungen.

Um die Wahrheit zu sagen: Ich bin nicht so der Theatertyp. Ich bin auch nicht so der Museumstyp. Was vielleicht daran liegt, dass mein Verständnis von Kunst eher konservativ ist. Wenn mich ein Bild nicht anspricht, gehe ich weiter. Ich setze keine Brille auf, um das Kleingedruckte daneben zu lesen. Ich gehe einfach weiter und warte darauf, dass was kommt, was knallt, auf den ersten Blick, wie Liebe. Wenn es nicht knallt, ist es nichts wert, nicht für mich. Das, ungefähr, ist meine Forderung an Kunst: dass sie den Menschen etwas gibt, und nicht sofort fordert, mahnt oder schimpft. Mahner, Stänkerer und Forderer gibt es in der Fußgängerzone und im Fernsehen genug; jedes Kind weiß, dass man auf die Art nicht viel erreicht. Auch das Trojanische Pferd ist als Geschenk daher gekommen.

Wenn ich im Theater sitze, will ich am liebsten eine Geschichte erzählt bekommen von der Art, wie sie nachts am Feuer erzählt wird. Eine Geschichte, die Dämonen bannt oder erweckt, in der man sich findet, die einen aufwühlt, empört, beruhigt, die unterhaltsam, von mir aus auch lehrreich ist. Außerdem will ich spüren, dass die Leute auf und hinter der Bühne brennen für das, was sie da machen, und nicht zum Beispiel lieber einen Film gedreht hätten, weil sie dem Theater und dem, was Theater kann, nicht trauen.

In den letzten Jahren habe ich – vielleicht durch Zufall – im Theater so viel gesehen, was mich achselzuckend außen vor gelassen hat, dass ich dachte, ich bin entweder ein Banause oder zu blöd, um das zu verstehen. Ich dachte, vielleicht funktioniert Theater heute so, dass man sich vorher einarbeiten, den Originaltext mitsprechen können muss, um die Inszenierung beurteilen und sagen zu können: Aha, an dieser Stelle ist dieses Wort durch jenes ersetzt worden, um einen aktuellen Bezug zu schaffen, eine ironische Spitze zu setzen. Das ist etwas, wozu ich keine Lust habe. Ich finde, Kunst muss dem Zuschauer die Welt aufschließen, nicht umgekehrt. Ich will mir Kunst nicht erarbeiten müssen, nur weil der Künstler verkorkst ist, sein Handwerk nicht beherrscht oder an unangenehmer Geltungssucht leidet.

Peer Gynt habe ich trotzdem vorher gelesen. Aus Angst, mich hier vollkommen zum Gespött zu machen. Das heißt: Erst habe ich eine Verfilmung gesehen, in der irrigen Annahme, ein Film böte den flachsten Einstieg und gleichzeitig die beste Zusammenfassung des Plots. Den Film habe ich nicht verstanden, überhaupt nicht. Also habe ich das Stück gelesen. Das war ein bisschen holprig und nicht unbedingt in luzide Verse verpackt, aber im Kern wusste ich doch, worum es ging, und ich habe auch verstanden, warum es noch gespielt wird.

Das ist ja überhaupt DAS Stück zur Zeit, habe ich gedacht, weil es um Identität geht, um die Inszenierung von Persönlichkeit, um Fragen, was Wahrheit ist, wie man leben soll und was wirklich zählt. Das sind Fragen, die so schnell nicht aus der Mode kommen und im Internetzeitalter aktueller sind denn je. Diese ganze (nicht nur) mediale (Selbst-)Inszenierung, diese social-community-Plattformen (facebook, myspace, xing …): Was macht man denn in chatrooms und virtuellen Welten anderes, als sich täglich neu zu erfinden, dem jeweiligen Code entsprechend zu inszenieren?

Kubus aus Kartons

„Peer, du lügst.“ Diesen ersten Satz habe ich deshalb nicht gesprochen erwartet, sondern geschrieben, auf einem riesenhaften Monitor, der das Bühnenbild beherrscht. Eine Antwort aus den finstren Schlünden irgendeines Chatrooms.

Dankenswerterweise war das nicht so. Das zentrale Bühnenelement ist viel subtiler, raffinierter, universeller: Ein riesenhafter Kubus aus Kartons, der mal Würfel, mal Mauer, dann wieder Leinwand ist, ein Mosaik aus Monitoren, Haus, Kopf, massiv oder hohl; die Bühne ist mal Projektionsfläche, mal Projektionsraum, Zerrspiegel, Pyramide, Berg, Höhle, kurz: so ziemlich alles, und gleichzeitig stellt sie eine zentrale Peer-Gynt-Mechanik kongenial vor, nämlich den scheinbaren Gegensatz zwischen innen und außen, Phantasie und Realität, Licht und Materie. Sogar das Internet-Thema schwingt mit, ohne explizit benannt werden zu müssen, und wer will, kann sich an einigen Stellen an die typischen Facebook-Partyfotos erinnert fühlen, die dort gern zur Inszenierung von Lebensfreude benutzt werden.

Genauso unangestrengt universell in der Schwebe, so scheinbar mühelos über Zeiten und Moden erhaben bleibt das Spiel des Ensembles: Peer Gynt ist nicht nur Hallodri, Tunichtgut und Taugenichts (jeweils im Wortsinn der entsprechenden Zeit), er ist auch Schwerenöter und Nerd, Banker, Neureicher, Sinnsucher; er ist von allem etwas und nichts wirklich, der Archetyp eines Prinzips, das in jeder Zeit in anderer Verkleidung auftritt. Er ist gefühllos und mitleiderregend, ein Täter und Getriebener, unschuldig, blind und sehnend, er taumelt über die Bühne, und wenn er schreit, schreien wir mit ihm, weil das Gefühl, dass sich da etwas abspielt, das elementar mit uns zu tun hat, in jedem Detail verankert ist.

Eine herausragende Leistung dieser Inszenierung ist die vollkommen organisch, überhaupt nicht verwirrend oder verkopft wirkende Auflösung von Raum und Zeit, das ständige Umschlagen zwischen Innen und Außen, ein Vexierbild, das Begriffe wie Traum, Metapher, Parabel, Realität innerhalb eines stabilen erzählerischen Kosmos mühelos ineinander verwischen lässt. Jedem Detail, jeder Idee merkt man an, dass sie das Ergebnis einer durchdachten Entscheidung ist, was hervorzuheben etwas sonderbar anmutet, weil sich nach der Landung ja auch niemand lobend darüber äußert, wie überraschend und beglückend es doch ist, dass der Pilot das Flugzeug auch wirklich fliegen konnte. Hier aber merkt man von der ersten Minute an, dass die Leute auf und hinter der Bühne genau wissen, was sie tun und warum sie es tun. Und diese Gewissheit, sich anvertrauen, hineinfallen lassen zu können, ist – Entschuldigung: einfach sehr angenehm.

Die Inszenierung schließt Peer Gynt für unsere Zeit neu auf

Der Abend dauert drei Stunden; er ist keine Sekunde zu lang, man folgt der Handlung (!) mit offenem Mund und angehaltenem Atem, was vor allem bei diesem Stoff eine Leistung ist: Es läge nah, aus Peer Gynt einen irgendwie metaphysisch verquasten Matsch zu machen, einen Bilder- und Metaphernrausch, in dem irgendwie alles mit allem zusammenhängt und deswegen im Streufeuer-Sinn irgendwann Bedeutung mitschwingen muss. Solcherlei Gepose und Geraune versagt sich die Inszenierung total; sie setzt Klarheit und Präzision dagegen, und wenn sich am Ende Peer mit der Frage beschäftigen muss, was er in die Waagschale zu werfen hat, was er vorweisen, beisteuern konnte, für was er (ein-)steht, dann sehen wir die ganze Zeit als übergroßes Bild die Lösung, seine mögliche Rettung hinter ihm, als Projektion: Solveig, die Reine, die ihn allem zum Trotz bedingungslos und aufrichtig liebt und das Bild von ihm, Peer Gynt, als Ideal in sich versiegelt trägt. Groß, stumm und geduldig wartend, so steht sie hinter ihm, nicht nur als Person, sondern als Prinzip, das gleichzeitig Mutter und Geliebte, Schöpfer und grenzenlos liebender Gott ist.

Peer windet sich wie ein Wurm, leidet, blutet und verzweifelt, während im Hintergrund dieses gütige, alles verzeihende, ewige Gesicht derart präsent auf ihn wartet, dass man als Zuschauer aufspringen und ihm zurufen will: „Kasperle, Kasperle, sieh dich doch um, es ist doch alles gar nicht so schlimm, da ist deine Rettung!“

Ach ja, und der Schluss ist genial. Wie da innen und außen noch einmal vertauscht und in eine ganz neue Dimension gehoben werden. Wie das Licht auf der Bühne schlagartig aus – und im Kopf angeht. Wie der letzte Satz zu leuchten, sich zu verwandeln beginnt. Aber das müssen Sie selbst erleben. Denn diese Inszenierung schließt Peer Gynt für unsere Zeit ganz neu auf, und es macht übrigens gar nichts, wenn Sie das Stück nicht gelesen haben, weil das, was Sie auf der Bühne sehen, so unendlich viel größer ist.

Stefan Beuse

Der Beitrag erschien im Rahmen der „Hamburgischen Dramaturgie“, eine vom Thalia-Theater initiierte Reihe, die Diskurse über das Theater anstoßen und eine kritische Öffentlichkeit schaffen möchte.

Zur Homepage des Thalia Theaters geht es hier.

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