Geschrieben am 11. November 2010 von für Bücher, Litmag

Jack Kerouac: On the Road. Die Urfassung

Der Zauber am Ende der Straße:

Jack Kerouacs „On the Road“ war Weckruf und Manifest für ganze Generationen von Beatniks und Hippies in den 50er- bis 70er-Jahren. Über ein halbes Jahrhundert nach der vom Verlag stark überarbeiteten und gekürzten Erstausgabe des Buches ist jetzt die „Urfassung“ erschienen. Karsten Herrmann stellt fest, dass die Energie dieser Prosa auch heute noch eine euphorische Sogwirkung entfalten kann.

Geschrieben hat Jack Kerouac diese Urfassung in drei schlaflosen Wochen im April 1951 mit Hilfe von jeder Menge Kaffee und Benezedrin auf einen 40 Meter langen Papierstreifen: „einfach durch die Maschine gezogen und wirklich kein Absatz … auf dem Fußboden ausgrollt und sieht wirklich aus wie eine Straße.“ Diese genialische Entstehungsgeschichte ist Teil des Mythos’ von „On the Road“, auch wenn Kerouac bereits seit 1948 an ausführlichen Textentwürfen gearbeitet und dutzende Notizhefte und Reisetagebücher mit Materialien vollgeschrieben hatte. Aber nach vielem Stocken und Abbrüchen gelang ihm in dieser kurzen Zeit der große Wurf, der auch eine Befreiung von den Literaturkonventionen der europäischen Moderne bedeutete. Der Roman wird so zu einem Exempel für ein rauschhaftes und impulsives Schreiben, dem es nicht um Stil, Form und Spannungsaufbau geht, sondern nur um ein Fest des Lebens, um Erregung und die „reine“ Wahrnehmung: „was alle wollten, war, irgendwie ins Herz der Dinge vorzudringen.“

Verrückte, die verrückt leben

Jack Kerouac erzählt in On the Road von fünf Reisen quer durch die Vereinigten Staaten und nach Mexiko, die er mit nur wenigen Dollars in der Tasche trampend, mit dem Auto oder mit dem Greyhound-Bus zwischen 1947 und 1949 unternommen hat. Steter Reisegefährte des Icherzählers Jack ist der „HEILIGE NARR“ Neal Cassidy, „ein junger Knacki, der sich in die Idee verrannt hatte, ein echter Intellektueller zu werden“. Er verkörpert für Jack exakt den Menschentypus, der ihn allein interessiert: „[es] sind die Verrückten, die verrückt leben, die nie gähnen oder Phrasen dreschen, sondern wie römisches Licht die ganze Nacht lang brennen, brennen, brennen.“

Und so sind diese Trips durch Amerika ein Rasen durch die von Bebop-Rhythmen durchzogenen Nächte mit ihren Suchenden und Entwurzelten, mit ihren Hobos, Hipstern und Huren und einer neuen kulturellen Undergroundbewegung mit „Starkstromgeistern“ wie Alan Ginsberg oder William S. Burroughs. Sie sind eine fast religiöse Beschwörung von Tempo und Bewegung um ihrer selbst willen: „‘Wow, Jack, wir müssen weiter und dürfen nicht halten, bis wir da sind.‘ – ‚Wo denn, Mann?‘ – ‚Keine Ahnung, aber wir müssen weiter.“

Mit weit geöffneten Sinnen und grenzenloser Leidenschaft wird jeder als gleichermaßen wertvoll angesehene Augenblick genossen und intensiv wahrgenommen. Eine befreite Lebensform leuchtet hier auf, die sich jeglicher gesellschaftlicher Kontrolle und Normierung entzieht. Kerouacs absatzlos dahin rauschende Prosa schraubt sich immer wieder in ekstatische Höhen und bekennt: „das Leben ist heilig.“

Abgründiger, roher, expliziter

Neal Cassady (links), Jack Kerouac

Wie die europäischen Avantgardebewegungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts vereint Jack Kerouac in „On the Road“ das Leben und die Literatur, lässt Dichtung und Wahrheit konsequent ineinanderfließen. Sein Roman ist dabei auch eine spirituelle Suche nach Sinn und Selbstverwirklichung in dem Bewusstsein, dass der Tod immer hinter der nächsten Ecke lauern kann.

Die von Ulrich Blumenbach beeindruckend ins Deutsche übersetzte Urfassung zeigt sich als abgründiger, roher und – insbesondere was die Schilderung zahlreicher, auch homosexueller Sexszenen angeht – sehr viel expliziter als die Erstausgabe. Sie gibt einen wunderbaren Anlass, um diesen Meilenstein der Literaturgeschichte wieder oder neu zu entdecken und sich von der unglaublichen Energie und Euphorie dieser unmittelbaren Prosa in den Bann ziehen zu lassen: „Man erwartet immer eine Art Zauber am Ende der Straße.“

Karsten Herrmann

Jack Kerouac: On the Road. Die Urfassung (On The Road, 1957). Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Berlin: Rowohlt Verlag 2010. 580 Seiten. 24,95 Euro.