Geschrieben am 11. November 2010 von für Bücher, Crimemag

Sergio Bizzio: Stille Wut

Mehr Mobiliar als Mensch

Beim Kaffeekränzchen wohlhabender Lateinamerikanerinnen wird ein Thema selten ausgespart: das Elend mit dem Hauspersonal. Da geht es dann um Unpünktlichkeit, zähe Steaks oder Brandflecken in teuren Seidenblusen. Dass es die dienstbaren Geister sind, die ihren Arbeitgeberinnen den Vollzeitjob trotz Kindern und anspruchsvollem Gatten oder das tägliche Vergnügen auf dem Golfplatz ermöglichen, wird meist vergessen. Von Eva Karnofsky

Über zwanzig Millionen Frauen und junge Mädchen verdingen sich zwischen Río Grande und Feuerland im Haushalt der gutsituierten Bürgerschicht. Sie rangieren am unteren Ende der Lohnskala, können von Achtstundentag und Fünftagewoche meist nur träumen und sind oft weder kranken- noch rentenversichert. Sie essen, was die Herrschaften übriglassen und hausen meist in kleinen Kabuffs hinter der Küche. Und viele werden öfter ausgemeckert als gelobt.

Die Herren der Schöpfung nehmen sie üblicherweise gar nicht wahr, es sei denn, um ihnen in Abwesenheit der Ehefrau mehr oder weniger verstohlen nach dem Hintern zu schielen. Hausmädchen will kaum jemand heiraten, da der Volksmund, ganz Macho, davon ausgeht, dass sie ihren Hausherren oder deren erwachsenen Söhnen auch anderweitig zu Diensten sind. Tatsache ist, dass bei Hausmädchenvereinigungen und -gewerkschaften, die in den letzten Jahren in einigen Ländern aktiv geworden sind, immer häufiger sexueller Missbrauch und Vergewaltigung durch den Hausherrn angezeigt werden.

Literatur entsteht gewöhnlich in bürgerlichen Häusern, und so huschen die Frauen mit dem blauen oder grünen Kittel und dem weißen Servierschürzchen davor allenfalls mal durch einen Roman, so wie sie durch das Haus seines Autors oder seiner Autorin huschen. Mit einigen Ausnahmen: Im Erstling „Das Fischkind“ der jungen Argentinierin Lucía Puenzo (Wagenbach Verlag, Berlin 2009) trägt der Missbrauch des minderjährigen paraguayischen Hausmädchens durch ihren Patrón wesentlich dazu bei, dass die Protagonistin zur Mörderin wird. Sergio Bizzio, Landsmann von Puenzo, spinnt nun in seinem Roman Stille Wut ebenfalls eine Mordgeschichte um eine Mucama, wie die Mädchen, die im Hause der Herrschaft wohnen, in Argentinien genannt werden. Zumindest unter argentinischen Schriftstellern scheint sich also allmählich die Erkenntnis durchzusetzen, dass es um die soziale Situation der rund eine Million Hausangestellten in ihrem Land nicht zum Besten bestellt ist. Das Konfliktpotenzial ist gar derart ausgeprägt, dass es sich zumindest literarisch fast zwangsläufig in Mord und Totschlag entladen muss.

Bizzio erzählt die Geschichte von María, dem Hilfsarbeiter, und Rosa, die in einer riesigen alten Villa in Recoleta, einem Nobelviertel von Buenos Aires, als Mucama tätig ist. Die beiden lernen sich beim Einkauf im Supermarkt kennen und verlieben sich ineinander. Doch der Sohn eines mächtigen Genossenschaftssekretärs hat ebenfalls ein Auge auf Rosa geworfen, und so fordert Marías Vorarbeiter ihn auf, die Finger von ihr zu lassen. María lehnt ab und wird fristlos entlassen. Er gerät darüber so in Wut, dass er den Vorarbeiter erschlägt.

Als die Polizei beginnt, nach María zu suchen, versteckt sich dieser, auch von Rosa unbemerkt, im unbewohnten Obergeschoss der Villa, in der sie arbeitet. María wird von nun an über das Treppenhaus Ohrenzeuge des Lebens in dem hochherrschaftlichen Haus. So entgeht ihm nicht, dass Rosa vom ältesten Sohn ihrer Herrschaft zunächst bedrängt und dann vergewaltigt wird. María wird wieder zum Mörder. Doch damit nicht genug. Seit Marías Verschwinden erfährt Rosa keinerlei Freundlichkeit und Zuneigung mehr. Dies nutzt ein Enkel der Herrschaft aus, er umgarnt das Mädchen so lange, bis sie sich schließlich mit ihm einlässt und schwanger wird.

Bizzios Roman ist spannend geschrieben, da der Leser ständig mit María bangt, in der Villa entdeckt zu werden. Der Autor weckt Mitleid mit ihm, denn in einer Klassengesellschaft wie der argentinischen, so Bizzios Credo, hatte María kaum eine andere Möglichkeit, Rosa und seine Liebe zu ihr zu verteidigen. Von Hilfsarbeitern wie ihm erwartet man sogar im privaten Bereich, dass sie zurückstehen, wenn denn jemand Anspruch auf ihr Mädchen erhebt, der weiter oben auf der sozialen Leiter steht. Und ein Hausmädchen wie Rosa ist Freiwild, eher Teil des Mobiliars als Mensch, ohne Recht auf Freizeit, auf Freunde, auf eine eigene Familie. Ihre Arbeitgeberin hält sich sogar für großzügig, wenn sie ihr anbietet, zu Weihnachten ihre Mutter anzurufen. Das Kind, das Rosa zur Welt bringt, erkennt sie natürlich nicht als ihren Urenkel an.

Für Menschen wie Rosa und María hält das Leben nicht viele Chancen bereit, und so ist den beiden zum Schluss nur ein kurzer, bitter-süßer Moment des Glücks beschieden.

Eva Karnofsky

Sergio Bizzio: Stille Wut. (Rabia, 2004). Deutsch von Sabine Giersberg. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2010. 240 Seiten. 19,99 Euro.

Eva Karnofsky: Besenkammer mit Bett. Das Schicksal einer illegalen Hausangestellten in Lateinamerika. Unkel: Horlemann Verlag 2005. 248 Seiten. 12,90 Euro.

Eva Karnofskys Website