Geschrieben am 11. November 2010 von für Musikmag

Soundcollage

Das ist ja mal wieder typisch – kaum ist man runde vier Monate verhindert, schon sammeln sich zig tolle Releases auf dem Schreibtisch. Daher ist gleich in der ersten Ausgabe der Soundcollage von Tina Manske ein Extended Play angesagt…

Sufjan Stevens: The Age Of AdzHöheres Wesen

Fangen wir ruhig gleich mit dem größten Wunder an, nämlich Sufjan Stevens‘ neuestem Meisterwerk. Es gibt ja Menschen, die bei der Erwähnung des Begriffes „Singer/Songwriter“ sofort stöhnend beidrehen. Die sollten mal „The Age Of Adz“ hören (veröffentlicht nur wenige Monate nach der ebenso abartig guten EP „All Delighted People“) und sich vergewissern, was man mit Songs so alles machen kann, wenn man sich freimacht. Wenn man die elektronischen Werkzeuge, die einem zur Verfügung stehen, tatsächlich bis an die Grenzen auslotet und nutzt und sie nicht nur als „Futile Devices“ (so der Opener) in der Ecke verstauben lässt. Gefühl für Melodie und Struktur von Musik gepaart mit klugen Arrangements – nicht umsonst wird bei der Besprechung dieses Albums gern die Parallele zu „Kid A“ von Radiohead gezogen. Hier wie da kommt man als Hörer in den Genuss, bisher Ungehörtes vernehmen zu können. Wenn Stevens im Titelsong sein „Gloria, Victoria“ anstimmt, ist man tatsächlich für den Moment gewillt, an ein höheres Wesen zu glauben.

Sufjan Stevens: The Age Of Adz. Asthmatic Kitty (Soulfood).

www.myspace.com/sufjanstevens

Dag för dag: ReleasesSchlicht und beeindruckend

Der Augenschein könnte leicht täuschen bei neuen EP der in Schweden lebenden Amerikaner Dag för Dag. Hippiesk treten die Geschwister Jacob und Sarah Snavely auf den Promobildern auf, doch ihr Sound ist alles andere als das. „Releases“ ist eine wunderbare kleine Sammlung von düster instrumentierten, jedoch mit Oktavgesang der beiden Bandmitglieder bestäubten Songs, die mal an Shoegaze, mal an David-Lynch-Soundtracks erinnern. Der Opener „I Am The Assasin“ war bereits auf Dag för Dags letzter Platte „Boo“ zu hören und ist in seiner kurz-knappen Schlichtheit aus nöligem Gesang und ebenso nöligen Gitarren immer noch ein Schmankerl. Den Abschluss bildet das geisterhafte „The Letdown“, das mit verzerrten Twang-Gitarren und Sarahs wie verschleiertem Gesang zur Gänsehaut einlädt. Das Beste aber kommt noch: Dag för Dag bieten „Releases“ für den Gegenwert einer funktionierenden E-Mail-Adresse zum Download an, und zwar hier: http://www.dagfordag.com/releases/

Blurt: Cut ItKultband

Blurt dagegen machen auch nach 30 Jahren immer noch den schönen genialischen Krach, den man von ihnen erwartet – und das erste Studioalbum seit 13 (!) Jahren. Und was wäre die erste Ausgabe eines Magazins mit „Cult“ im Namen ohne eine echte Kultband! Ted Milton, einer der Überlebenden der alten Beat-Ära, bläst auch auf „Cut It!“ dem Establishment den Marsch – mit Afro-Percussions, ausbrechenden Gitarren, wildgewordenen Blasausflügen und – neu – jetzt auch einem expliziten Protestsong. Aber nicht nur „The Bells“ erwähnt den Krieg in Afghanistan („They did not give their lives/ they sold it/ to keep the bells of Wooton Basset tolling“), auch der Opener „Once More“ ist schon ganz offensichtlich mit der politischen Gesamtsituation unzufrieden. Und man merkt: diese ächzende, in den Gelenken knirschende, ganz und gar unhippe Musik mit ihren dadahaften Texten ist genau die richtige, um auch solche Widerstände zu betonen. Weil sie ja auch, wie in „Gerbera“, ihre sanfte Seite als andere Backe hinhält. Was einen insgesamt nicht daran hindert, zu „Cut It!“ zu poguen, aber ja! Denn: „Hell hath no minibar!“

Blurt: Cut It! LTM Recordings (CMS)

http://tedmilton.com/

Nils Wogram & Root 70: Listen To Your WomanFirst takes

Nils Wogram bringt mit „Listen To Your Woman“ sein erstes Album auf seinem eigenen Label heraus, zusammen mit seiner Formation Root 70. Die Platte ist untertitelt mit „Conceptional works II“, und das Konzept heißt: Blues. Wogram und seine Mitstreiter (allen voran Hayden Chisholm am Alt-Saxophon) zeigen einmal mehr, welch Facettenreichtum man der 12-taktigen Form abgewinnen kann – von abringen kann keine Rede sein, denn „Listen To Your Woman“ klingt äußerst leichtfüßig. „Hot Summer Blues“ zum Beispiel beginnt mit Obertonreihen im fast esoterischen Stil, bis wilde Jagden zwischen Saxophon und Posaune das Stück auf den Boden zurückbringen. Oder man höre „Behind The Heart Beat“, das mit einem Reggae im Blues-Gewand beginnt, dann aber zwischendrin den Bogen ganz woanders hin macht. Aufgenommen wurde im harten Berliner Winter im Januar 2010 in den Nalepa-Studios, dem ehemaligen Sitz des DDR-Rundfunks, und zwar, wenn man den Liner Notes von Ahmet Shabo Glauben schenken darf, als Zusammenstellung von first takes an einem einzigen Abend. Eine wunderbare Hommage an den Blues.

Nils Wogram & Root 70: Listen To Your Woman. nWog (JaKla)

http://www.nilswogram.com/

Summer Camp: Young EPTanzen die ganze Nacht…

Auch Summer Camp haben (im Sommer übrigens schon, meine Güte, wie die Zeit vergeht!) mit „Young“ eine EP vorgelegt – sechs Songs, die klingen, als wären sie auf der Tanzfläche eines Prom-Abschlussballes erfunden worden. Und tatsächlich geht es in den Texten um die Jugend, die denkt, sie werde niemals alt, und um das Alter, das dann bemerkt, dass es nie wieder jung sein wird. Melancholisch? – Nö! Elizabeth Sankey und Jeremy Warmsley aus London singen dazu, als hätten sie die ganze Zeit Petticoats und zu kurze Hosen an. „We danced all night and we held each other tight/ til the morning light“, heißt es im wunderbaren, mit eiernden Magnetic-Fields-Keyboards nur so strotzenden „Round The Moon“, und genau diese Mischung aus Sehnsucht und Ewigkeitsanspruch hat man beim Hören dieser Musik.

Summer Camp: Young EP. Moshi Moshi (Roughtrade).

www.myspace.com/summercampmusic

Harmonious Thelonious: Andocken am Energiefluss

Harmonious Thelonious ist das neue elektronische Steckenpferd von Stefan Schwander, auch bekannt als Antonelli. Völlig zurecht Album des Monats Oktober bei der De:Bug ist „Talking“ eine im wahrsten Sinne des Wortes aufwühlende Mischung aus afrikanischem Voodoo-Zauber, amerikanischem Minimalismus und europäischem Sequencing – wem da nicht schon beim Lesen die Hosentür aufspringt… Und wer hätte gedacht, dass diese drei so großartig zusammengehen. Ohne besonders esoterisch werden zu wollen: Es gibt einen allgemeinen Energiefluss, an den man sich andocken kann oder es lassen. Beim Hören dieser Platte jedoch wird man förmlich mitgerissen. Doch „Talking“ funktioniert nicht nur im Club, sondern auch im heimischen Wohnzimmer – wenn man sich darauf einlässt kann das locker in einer Trance enden.

Harmonious Thelonious: Talking. Italic (Kompakt/Rough Trade).

www.harmoniousthelonious.com/

Caribou: SwimBaden im Sound

Im Frühjahr bereits begeisterte Caribou mit seiner Platte „Swim“ große Teile des Musikfeuilletons. Jetzt ist eine Remix-CD „Swim Mixes“ erschienen, die im Internet gestreamt werden kann. Künstler wie die Junior Boys, die Fuck Buttons oder DJ Koze nehmen sich der extrem gelungenen Kompositionen des Meisters an und machen daraus eine äußerst unterhaltsame Sause. Da das Original bereits sehr tanzbar ist, lag es nahe, die meisten Titel eher zu verlangsamen und sich auf die Rhythmen zu konzentrieren, als sie zu pitchen – genau das passiert auch, zum Beispiel bei Altrice’s „Sun“-Remix. „Swim Mixes“ ist nur als Download erhältlich, wer aber die immer noch schwer ans Herz gelegte „Swim“ als CD oder Platte ersteht, bekommt die Remixe kostenlos dazu.

http://soundcloud.com/caribouband/sets/swim-remixes

Black Mountain:Achterbahn in die 70er

Black Mountain aus Vancouver führen uns mit ihrem dritten Album „Wilderness Heart“ in die Sphären des guten alten Roots Rock. Aber auch Metal und Folk kommen zu ihrem Recht. Aufgenommen wurde die Platte teils in Seattle, teils im sonnendurchfluteten Los Angeles. Die Unterschiede im Sound sind je nach Entstehungsort tatsächlich fast hörbar: da ist die erste Hälfte mit dem Opener „The Hair Song“, der mit Progrock-Einlagen glänzt und in interessanten Space-Rock abdriftet, mit „Old Fangs“, dem das Testosteron aus allen Poren schimmert, die Ballade „Radiant Hearts“ oder „Rollercoaster“ mit seinen halsbrecherischen Rhythmuswechseln. Danach geht’s gefühlt an die Westküste und werden die Songs leichter und heller. Black Mountain schlagen mit ihrem neuesten Album einen breiten stilistischen Fächer auf – eine Leistung, die an die großen Rockbands der 70er erinnert.

Black Mountain: Wilderness Heart. Jagjaguwar (Cargo).

www.myspace.com/blackmountain

The Qualitons: Panoramic TymesFunk und Soul

So, zwischendurch einen schönen vegetarischen Lenny-Burger im Berliner Kult-(schon wieder, ha!)-Rock’n’Roll-Schuppen Tiki Heart Café essen – dazu passt der Funk und Soul des neuen Albums der ungarischen Band The Qualitons, benannt nach einem ungarischen Plattenlabel, das bis in die 70er-Jahre hinein aktiv war. Nachdem sich die Band am Anfang auf Coverversionen verlegt hatte, wurde schnell klar, dass da mehr drin war. Seit 2008 touren The Qualitons mit ihrem Sound, der stark mit Beateinflüssen unterlegt ist, durch die Welt, und wenn man bei einem Festival in der Heimat vom Meister Gil-Scott Heron beglückwünscht wird, hat man es wohl zurecht geschafft. Jetzt fehlt nur noch das ganz, ganz große Publikum, meine Herrschaften! Auf der ansonsten rein instrumentalen Platte „Panoramic Tymes“ darf Schlagzeuger Hunor Szabo auf drei Songs seine Vokalqualitäten ausleben. Alle Bandmitglieder entstammen im Übrigen der Jazzsparte der Budapester Musikakademie, und das hört man. Eine Spaßplatte mit Potenzial zum Durchbruch.

The Qualitons: Panoramic Tymes. Tramp Records (Kudos).

http://thequalitons.com/

Enders Room: zen tauriBandkonzept statt Poserei

Wer von dem Saxophonisten Johannes Enders bis vor Kurzem noch nichts gehört hat, befindet sich in guter Gesellschaft. Er ackert halt auf einem Feld, in dem Namen nicht immer im Vordergrund stehen, wir sprechen hier nämlich von Jazz, nicht Pop. Dabei ist er mit seinem Projekt Enders Room schon seit Jahren unterwegs. Bekannter dürften die Band Tied & Tickled Trio sein, bei dem Enders ebenfalls Mitglied ist (und dessen Mitglied Micha Acher auf vier der zehn vorliegenden Songs die Trompete spielt). Und auch soundmäßig ist diese Band aus Weilheim in Oberbayern ein guter Wegweiser für das, was Enders Room mit „zen tauri“ vorhat. Während „New Wonder“ mit seinem Gesang an Sigur Rós erinnert, begeistert gleich darauf „Archetype“ mit einer für dieses Umfeld ziemlich typischen Rhythmisierung. „Notre Dame“ hingegen beschwört mit dunklen Klängen die Mystik dieses Ortes. Es besticht auf dieser CD das harmonische Zusammenspiel verschiedenster Einflüsse: von Billy Hart über Brad Mehldau bis hin zu Hank Jones, mit so vielen Künstlern unterschiedlichster Provenienz hat Enders bereits gearbeitet, dass sowohl klassische analoge Ästhetik als auch elektronische Finessen zu ihrem Recht kommen. Das Wichtigste aber ist bei ihm immer das Bandkonzept – einsam vor sich hinposen sollen ruhig die anderen. Jazz auch für Jazzskeptiker.

Enders Room: zen tauri. material records (Harmonia Mundi).

www.enders-room.de/

Autolux: Transit TransitSich schließende Kühlschranktüren

Ebenfalls eine sehr vielfältige Klangästhetik entwickeln Autolux aus Los Angeles. Kein Wunder, dass Künstler wie PJ Harvey oder Thom Yorke die Band schon als Support gebucht haben. Seit ihrem ersten Album „Future Perfect“ ist einige Zeit ins Land gegangen, die das Trio offensichtlich sinnvoll genutzt hat. Ihre neue Platte „Transit Transit“ ist passend betitelt, denn tatsächlich scheinen Carla Azar, Greg Edwards und Eugene Goreshter kontinuierlich zwischen Spacerock, Dreampop und Soundexperimenten zu schweben, zwischen Radiohead und den Flaming Lips etwa. Auf dem eröffnenden Titelsong zum Beispiel hört man den Loop einer sich schließenden Kühlschranktür, sehr hübsch. Gerne werden interessante Rhythmusstrukturen ausprobiert, wie bei „Audience No. 2“. Songs wie „The Bouncing Wall“ hingegen würden auch School Of Seven Bells gut anstehen – die Verwandtschaft zeigt sich nicht nur in der beneidenswerten Singstimme von Carla Azar. Aber auch die beiden anderen Bandmitglieder von Autolux kommen zu ihren Gesangsparts, und dass dieses Jeder-macht-mal-alles-Prinzip prima funktioniert, zeugt von der Qualität der Band.

Autolux: Transit Transit. ATP Recordings (Indigo).

www.autolux.net

Philip Jeck: An Ark For The ListenerMinidisc, anyone?

Das Ende des Vinylzeitalters ist ja schon längst selbst an sein Ende gekommen, und man braucht keine prophetischen Fähigkeiten um zu sehen, dass uns das ewige Downloaden, Synchronisieren und Updaten unserer multiplen digitalen Geräte bald dermaßen auf den Geist gehen wird, dass wir mit einem erleichterten Seufzen der Wiederauferstehung des Plattenspielers (wahrscheinlich als iPhonoTM oder so, damit’s nicht zu heftig wird) beiwohnen werden. Was für tolle Sachen man mit Vinyl machen kann, zeigt schon seit Jahren der Klangkünstler Philip Jeck. Zusammen mit Gavin Bryars und Alter Ego ließ er in „The Sinking Of The Titanic“ altes Erinnerungsmaterial auf moderne Verarbeitung stoßen, auf seinem grandiosen „Vinyl Coda“ setzte er bereits um die Jahrtausendwende Maßstäbe in avantgardistischer Musik für analoges Material. Jetzt erscheint „An Ark For The Listener“, für das Jeck Live-Aufnahmen der letzten 12 Monate verwendet hat und das als Meditation auf Gerard Manley Hopkins‘ Gedicht „The Wreck of The Deutschland“ angelegt ist. Das muss man aber nicht wissen, um die dunklen, repetitiven Töne Jecks auf sich wirken zu lassen. Auf der Bühne arbeitet er mit Plattenspielern, Casio-Keyboards, Minidisc-Playern (kennt die Jugend gar nicht mehr!), Mixern und Bassgitarren. Gruselig schön.

Philip Jeck: An Ark For The Listener. Touch (Cargo).

www.philipjeck.com

Tina Manske